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Aktuelles

27. Oktober 2024

Seit Sommer 2021 ist das niederländische Unternehmen Koninklijke Philips N.V. gezwungen, mehrere Geräte, die die ganze Welt massiv betreffen, vom Weltmarkt zu nehmen, insbesondere fehlerhafte Modelle von Beatmungsgeräten, die ein Gesundheitsrisiko für Patienten mit Atemproblemen, insbesondere Schlafapnoe, darstellen[1].

Die Art und das Ausmaß des Falls veranlassten dann die Verbraucher weltweit, sich zu fragen, welche rechtlichen Möglichkeiten ihnen in einer solchen Situation zur Verfügung stehen würden. Eine erste Initiative war der Abschluss eines Abkommens zwischen Philips und den USA, in dem sich das niederländische Unternehmen bereit erklärte, 58.000 Personen, die von den fehlerhaften Geräten betroffen waren, mit 1,1 Milliarden Dollar zu entschädigen[2], um alle Schadensersatzansprüche der Opfer gemeinsam zu regeln.

Anders als in den USA, wo die Sammelklage ihren Ursprung hat, ist eine solche Klage auf europäischer Ebene und insbesondere im Recht der Europäischen Union nicht möglich. Das europäische Recht verfügt über einen für seine Mitgliedstaaten verbindlichen Rechtstext, nämlich die Richtlinie 2020/1828 über Verbandsklagen zum Schutz der Kollektivinteressen der Verbraucher, die am 25. Juni 2023 in Kraft getreten ist. In ihrem Text sieht die Richtlinie in der Präambel unter anderem vor, „den Zugang der Verbraucher zum Recht zu verbessern“ (Ziff. 10) und folglich von qualifizierten Einrichtungen vertreten zu werden, die gegen Unternehmen klagen können (Art. 4 Ziff. 1). Dadurch ermöglicht es den europäischen Verbrauchern, in ihren Rechten und Interessen geschützt zu werden, wenn Unternehmen gegen europäisches Recht verstoßen.
Im Juni 2023 hat unsere Kanzlei, die zu einer der renommierten internationalen Anwaltsgruppen, dem Global Justice Network (GJN), gehört, mit Stolz und Würde ihren Willen unter Beweis gestellt, ihre Verpflichtungen fortzusetzen, indem sie hartnäckig an der Vertretung von Personen arbeitet, die in Europa durch die Nutzung dieser Geräte geschädigt wurden, und insbesondere zugunsten von Personen in der Schweiz, die die 28'188 in diesem Land verkauften Geräte genutzt haben. Gemeinsam mit der italienischen Verbraucherschutzorganisation ADUSBEF reichten unsere Gruppen eine erste europaweite Sammelklage gegen Philips ein, die sich auf die oben genannte Richtlinie stützte[3].

Nach dem Vorbild der USA will der europäische Wille, den wir heute vertreten, diese Klage einreichen, um eine Entschädigung zugunsten der 1,2 Millionen betroffenen europäischen Bürger zu erwirken. Die Anwälte fordern 70.000 Euro pro Opfer, was einer Gesamtsumme von 84 Milliarden Euro entspricht. Sie begründen diese Forderung mit dem erlittenen emotionalen Trauma und fordern auch eine zusätzliche Entschädigung für Patienten, die tatsächlich die durch die fehlerhaften Beatmungsgeräte gesundheitliche Probleme erlitten haben, sowie für die Familien der verstorbenen Patienten[4].

Das Ergebnis einer solchen Klage wird einen Höhepunkt in der Rechtsprechungsgeschichte des europäischen Rechtsverfahrens darstellen, da es den Weg für viele zukünftige europaweite Sammelklagen ebnen wird, wie wir es derzeit mit dieser ersten Klage gegen das niederländische Unternehmen, Philips, erleben[5].

Trotz des Aufkommens von europäischen Sammelklagen, die neue Probleme widerspiegeln und aufgrund ihres internationalen Charakters, der Opfer aus verschiedenen Ländern einbezieht, komplexe rechtliche Fragen einführen, bleibt unser Engagement ungebrochen. Wir werden die Schweizerinnen und Schweizer weiterhin mit Stolz vertreten, trotz der rechtlichen Herausforderungen, denen wir uns in dieser neuen Ära der europäischen Sammelklagen gegenübersehen. Wir werden weiterhin zur Verfügung stehen, um die Schweizer über ihre Rechte zu informieren und das Engagement unserer Kanzlei für die Verteidigung ihrer internationalen Mandanten in enger Zusammenarbeit mit dem GJN zu bekräftigen.
 


 
[1] https://www.rtbf.be/article/respirateurs-philips-possiblement-defectueux-les-utilisateurs-attendent-les-actionnaires-reclament-dedommagement-11065254
[2] https://lemondedudroit.fr/decryptages/94291-vers-une-europe-des-nuclear-verdicts-l-affaire-philips-et-les-nouvelles-perspectives-juridiques.html
[3] https://www.euractiv.fr/section/sante/news/action-collective-a-lechelle-europeenne-contre-philips-pour-des-respirateurs-potentiellement-toxiques/
[4] https://www.euractiv.fr/section/sante/news/action-collective-a-lechelle-europeenne-contre-philips-pour-des-respirateurs-potentiellement-toxiques/
[5] https://lemondedudroit.fr/decryptages/94291-vers-une-europe-des-nuclear-verdicts-l-affaire-philips-et-les-nouvelles-perspectives-juridiques.html#_ftn3

22. Mai 2024

Am 9. April 2024 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Schweizer Regierung, weil sie keine wirksame Klimaschutzpolitik betreibt und das Recht auf Leben verletzt hat.

 Bei den Beschwerdeführern handelte es sich um eine Schweizer Vereinigung älterer Frauen im Alter zwischen 78 und 89 Jahren, die sich seit 2016 für die Verhinderung des Klimawandels einsetzen. Die Klägerinnen beklagten sich über die durch die globale Erwärmung verursachten Gesundheitsprobleme und die Auswirkungen auf ihren Gesundheitszustand, insbesondere bei Hitzewellen. Nachdem sie alle innerstaatlichen Rechtsmittel in der Schweiz ausgeschöpft hatten, brachten sie den Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Die Anklage gegen die Schweiz bezog sich auf Artikel 2 (Recht auf Leben), Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren), Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens), Artikel 13 (Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf) und die Kriterien von Artikel 34 (Opferstatus).

Der Gerichtshof stellte fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 und Artikel 6 Absatz 1 der Konvention vorlag.

In Bezug auf Artikel 8 haben die Schweizer Behörden ihre Pflichten, die auch als positive Verpflichtungen bezeichnet werden, zur Umsetzung von Maßnahmen zur Verringerung der Auswirkungen des Klimawandels nicht erfüllt und somit ihr Ziel zur Verringerung der Treibhausgasemissionen verfehlt, während in Bezug auf Artikel 6 Absatz 1 ein Mangel an verfügbaren Möglichkeiten besteht, Beschwerden vor ein Gericht zu bringen, da der Fall vor der EMRK nur von einer Verwaltungsbehörde und dann von nationalen Gerichten auf zwei Zuständigkeitsebenen abgewiesen wurde.

Während diese beiden Artikel von der Schweiz ordnungsgemäß verletzt wurden, erklärte die Große Kammer die Beschwerden gegen Artikel 2 und Artikel 13 für unzulässig, da sie keine wirksamen Elemente gegen die Schweiz enthielten.

In Übereinstimmung mit Artikel 34 der Konvention nahm die Große Kammer dieses Urteil zum Anlass, neue Kriterien für den Opferstatus in klimabezogenen Fällen aufzustellen und mögliche zukünftige Fälle von actio popularis zu verhindern.

Man könnte argumentieren, dass die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Verein KlimaSeniorinnen Schweiz und andere gegen die Schweiz zu hart für die Schweizer Behörden war. Am selben Tag wurden zwei weitere Fälle, Carême gegen Frankreich und Duarte Agostinho u.a. gegen Portugal, in denen es um denselben Vorwurf des Klimawandels ging, für unzulässig erklärt. In der Rechtssache gegen Frankreich wurden die Beschwerden des Klägers nicht angenommen, da er nicht mehr an dem Ort lebt, an dem er Rechtsmittel einlegt, und die Rechtssache wird gemäß Artikel 34 als unzulässig betrachtet. Was die Beschwerden gegen Portugal betrifft, so haben die Antragsteller nicht alle innerstaatlichen Rechtsbehelfe ausgeschöpft, was gegen die in der Konvention festgelegten Anwendbarkeitskriterien verstösst.

Sicherlich hat die Entscheidung des Gerichtshofs gegen die Schweiz viele Kritiken und Zweifel an der Fairness des Urteils hervorgerufen, aber es war das erste Urteil des Gerichtshofs in einem Klimafall und bereichert somit die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.

Thomas AGUIAR, Ingrid POUWER, Marie-Lise SALAME, Chiara SOUVLAKIS, Nadia DJENNI

 

17. Januar 2024

1. Koordination zwischen der Schweiz und der Europäischen Union

Der rechtliche Rahmen, der die Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU regelt, beruht auf einem bilateralen Abkommen: dem Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (im Folgenden "FZA").

Dieses Abkommen verweist in seinem Anhang II auf die Europäische Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit sowie auf die Europäische Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004.

Die Koordinierungsregeln des FZA müssen vorrangig angewendet werden, auch wenn sie den europäischen Regeln zuwiderlaufen (Métral Jean/Moser-Szeless Margit, L'accord sur la libre circulation des personnes: coordination des systèmes de sécurité sociale et jurisprudence du Tribunal fédéral (II), REAS 2007, S. 169).

Diese Verordnungen ermöglichen eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen den Sozialversicherungsträgern der EU-Mitgliedstaaten und der Schweiz, insbesondere in Bezug auf die Alterseinrichtungen.

Insbesondere ist zu beachten, dass, wenn Sie in mehreren Staaten Beiträge zahlen, jeder Staat eine Rente oder eine Kapitalleistung zahlt, die den angesammelten Guthaben für die in seinem Land geleistete Arbeit entspricht. Eine Übertragung von Berufsguthaben zwischen Pensionskassen in verschiedenen Staaten ist nicht möglich. Wenn Sie also in mehreren Staaten Beiträge gezahlt haben, erhalten Sie je nach den geltenden Bedingungen eine Rente oder einen Kapitalabgang aus jedem dieser Staaten.

2. AHV-Rente (1. Säule)

In der Schweiz ist der Zugang zu den ordentlichen Leistungen der ersten Säule an die Vollendung des 65. Lebensjahres geknüpft (Art. 21 Abs. 1 AHVG).

Neben den ordentlichen Leistungen besteht die Möglichkeit, sich ein oder zwei Jahre vor dem ordentlichen Rentenalter, also mit 63 oder 64 Jahren, für eine Frühpensionierung zu entscheiden. Für den Erhalt der Frühpensionierung gibt es keine besonderen Gründe (schlechter Gesundheitszustand etc.), lediglich das Alter (Art. 40 Abs. 1 AHVG) und ein möglicher Einkauf in die reglementarischen Leistungen (Art. 1b BVV2) sind für die Bestimmung dieses Anspruchs relevant.

In Bezug auf ausländische Arbeitnehmer legt Art. 18 Abs. 2 AHVG fest, dass diese und ihre Hinterbliebenen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft nur so lange Anspruch auf eine Rente haben, wie sie ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in der Schweiz haben.  Der Begriff des Wohnsitzes bezieht sich auf die Art. 23 bis 26 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (Art. 13 Abs. 1 ATSG), und der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts (Art. 13 Abs. 2 ATSG) "entspricht dem Ort, an dem sich die betreffende Person eine gewisse Zeit aufhält, auch wenn die Dauer dieses Aufenthalts von vornherein begrenzt ist" (BGE 141 V 530, E. 5.1. und zitierte Ref.). Folglich verliert eine Person ohne Schweizer Staatsbürgerschaft, die die Schweiz endgültig verlässt, um sich im Ausland niederzulassen, ihren Anspruch auf eine Schweizer AHV-Rente.

3. Berufliche Vorsorge (zweite Säule)

In Bezug auf die berufliche Vorsorge (die 2. Säule) entsteht der Anspruch auf Altersleistungen ab dem Alter von 65 Jahren (Art. 13 Abs. 1 BVG).

Die im Laufe der Jahre auf dem Konto der beruflichen Vorsorge kapitalisierten Einkünfte können Gegenstand einer Rente (monatliche Auszahlung) oder einer einmaligen Kapitalauszahlung des gesamten Guthabens aus der beruflichen Vorsorge sein. Wichtig ist, dass eine Rentenzahlung erst ab einer bestimmten Beitragshöhe möglich ist, da ansonsten nur eine einmalige Kapitalauszahlung möglich ist. Um Ihren Betrag zu erfahren, erkundigen Sie sich bei Ihrer Pensionskasse.

Ein weiterer wichtiger Hinweis: Ein Kapitalbezug vor der Pensionierung oder dem vorzeitigen Rentenalter ist nicht möglich, wenn man die Schweiz endgültig verlässt, um sich in einem EU-/EFTA-Land niederzulassen (Vuilleumier Frédéric, Prévoyance professionnelle et aspects internationaux - partie II, in Droit fiscal et assurances sociales, en particulier la prévoyance professionnelle et les aspects transfrontaliers [de Vries Reilingh Daniel, Hrsg., Steuerrecht und Sozialversicherungen, insbesondere berufliche Vorsorge und grenzüberschreitende Aspekte]. ], Zürich (Schulthess) 2016, S. 159 ff., S. 178; Bundesamt für Sozialversicherungen BSV, Berufliche Vorsorge (2. Säule), Freizügigkeitsleistung: Vergessen Sie Ihre Guthaben und Vorsorge nicht).

4. Was ist beim Tod eines Ehepartners?

Der überlebende Ehepartner hat unter den folgenden kumulativen Bedingungen Anspruch auf eine Witwerrente:

  • · Wenn der überlebende Ehepartner mindestens ein unterhaltsberechtigtes Kind hat oder das Alter von 45 Jahren erreicht hat (Art. 19 Abs. 1 Bst. a BVG) ;
  • · Wenn er seit mindestens fünf Jahren mit dem Erblasser verheiratet war (Art. 19 Abs. 1 lit. b BVG) ;
  • · Wenn der Erblasser ausreichend Beiträge (in die erste Säule) geleistet hatte ;
  • · Wenn das Vorsorgeguthaben des Erblassers nicht vorgängig in Kapitalform bezogen wurde.

Hinterbliebenenrenten (hier die Witwerrente) werden in der EU unter denselben Bedingungen wie in der Schweiz ausbezahlt. Hingegen können sie in der Schweiz nicht gleichzeitig mit einer Altersrente ausbezahlt werden. Wenn die beiden Renten (wie die Witwerrente und die AHV-Rente) miteinander konkurrieren, wird die höhere Leistung ausgezahlt (Art. 24b AHVG). Wenn die überlebende Person mehr Beiträge gezahlt hat als der verstorbene Ehepartner, wird sie wahrscheinlich nur dessen Altersrente erhalten und umgekehrt.

In ähnlicher Weise kürzen einige Staaten ihre Leistungen, wenn Renten aus dem Ausland mit inländischen Renten kumuliert werden (Art. 10 der Europäischen Verordnung (EG) Nr. 987/2009).

5. Wahl zwischen Rente und Kapitalauszahlung und Auszahlungsmodalitäten im Ausland

Je nach Gesundheitszustand, Beitragsjahren, Bedürfnissen des Ehepartners, Lebensplanung usw. muss abgewogen werden, ob eine langfristig gezahlte Rente (in der Regel bis zum Tod des Begünstigten) oder eine Auszahlung der gesamten Beiträge (d. h. eine Kapitalauszahlung) vorzuziehen ist. Bei einer vorzeitigen Pensionierung wird die Kapitalauszahlung nur teilweise erfolgen: Eine auf dem Versicherungsschein angegebene Summe muss bis zum Erreichen des Rentenalters oder bis zum Tod auf dem Freizügigkeitskonto verbleiben. Dieser Betrag variiert je nach Pensionskasse.

6. Schlussfolgerung

Die soziale Vorsorge der Schweiz ist für Schweizer Staatsangehörige in ganz Europa zugänglich, für Ausländer jedoch nur in der Schweiz. Beachten Sie auch, dass die Gesundheit bei der Frühverrentung nicht relevant ist. Was die entscheidenden Entscheidungen betrifft, so ist eine Kapitalauszahlung zu bevorzugen, wenn die Gesundheit nicht optimal ist, um dem überlebenden Ehepartner den Zugang zu den Vorsorgegeldern zu erleichtern, während eine Rente vorzuziehen ist, wenn man eher den Komfort einer monatlichen Zahlung sucht.

Beachten Sie, dass diese Ratschläge grundsätzlich für eine Ausreise in jedes EU-/EFTA-Land gelten.

07. November 2023

Als eine Mutter und ihre 38-jährige Tochter 2018 gemütlich auf einem Bürgersteig spazieren gingen, wurden sie von einem Fahrer erfasst, der die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. Die Tochter war auf der Stelle tot und die Mutter wurde schwer verletzt. Die Schweizer Instanzen befanden den Fahrer nicht für schuldig, da die Umstände des Blackouts, auf den er sich berief, nicht genau bestimmt werden konnten. Das Schweizer Strafgericht sprach ihn daher von jeglicher Schuld und Strafe frei.

Wie kann ein Tötungsdelikt, selbst wenn es fahrlässig begangen wurde, straffrei bleiben? Diese Frage stellten wir den Richtern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) und beriefen uns dabei auf Artikel 2 der Konvention, der besagt, dass "das Recht eines jeden Menschen auf Leben gesetzlich geschützt ist", sowie auf Artikel 6, der Garantien für den Verlauf des Verfahrens verlangt.

Nachdem sie alle Schweizer Instanzen durchlaufen hatte, wandte sich die Beschwerdeführerin (Mutter des Opfers) an den EGMR, um Gerechtigkeit für sich und ihre Tochter (die am Unfallort verstarb) sowie für den Unfall, der zu einer dauerhaften Invalidität geführt hatte, zu erlangen. Sie bringt mehrere Beschwerdepunkte gegen unsere Gerichte vor. Kurz gesagt, so die Beschwerdeführerin, haben die Schweizer Gerichte die Verpflichtung aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) missachtet. Dieser verlangt die Einrichtung eines wirksamen und unabhängigen Justizsystems, das es ermöglicht, die Umstände des Todes festzustellen und gegebenenfalls die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Diese positive Verpflichtung aus demselben Artikel muss so ausgelegt werden, dass sie im Zusammenhang mit jeder öffentlichen oder nichtöffentlichen Aktivität gilt, bei der das Recht auf Leben auf dem Spiel stehen kann (Ciechońska v. Polen, 2011, § 69; Banel v. Litauen, 2013, § 68). In diesen beiden Fällen räumte der EGMR ein, dass die nationalen Gerichte nicht alles getan haben, um ungerechtfertigte Verletzungen des Rechts auf Leben nicht ungestraft zu lassen. Ein solches Verhalten würde jeden Anschein der Duldung illegaler Handlungen verhindern und das Vertrauen der Öffentlichkeit aufrechterhalten (Oruk v. Türkei, 2014, §46).

In unserem Fall könnte der Freispruch des Fahrers als eine Schwächung der abschreckenden Rolle erscheinen, die ein Justizsystem bei der Verhinderung von Verletzungen des Rechts auf Leben spielt.

Die erste Beschwerde, die von der Beschwerdeführerin vorgebracht wurde, stützt sich darauf, dass die Schweizer Gerichte die Indizien nicht berücksichtigt haben, die zur Feststellung der Todesumstände führen können und die Verantwortlichen gegebenenfalls zur Rechenschaft ziehen können, sowie auf ihre Verpflichtung, das effektive Funktionieren eines bestimmten Rechtsrahmens zu gewährleisten. In diesem Fall begnügten sich die Schweizer Gerichte mit zwei medizinischen Gutachten, obwohl ein drittes vorlag, das eine gewisse Verantwortung des Fahrers befürwortete. Die Zuweisung der Verantwortung konnte auf der Grundlage der Ergebnisse des dritten Gutachtens, das auf einen möglichen Schlaf während des Unfalls hindeutete, nicht zugelassen werden.

Der zweite Vorwurf stützt sich auf den lückenhaften innerstaatlichen Rechtsrahmen für den Straßenverkehr. Dieses ist nicht abschreckend und streng genug, um eine wirksame Prävention von illegalen Handlungen zu gewährleisten. Das Schweizer Rechtssystem sieht kein Fahrverbot unter bestimmten Bedingungen vor. Darüber hinaus prangert die Beschwerdeführerin die Tötung an, die in diesem Fall ungestraft blieb. Weder Strafen noch Maßnahmen wurden gegen den Täter aufgrund der Einnahme von Medikamenten ergriffen. Diese hatten jedoch Auswirkungen, wie z. B. eine sehr starke Abnahme der kognitiven Leistung und Schläfrigkeit. Obwohl der Fahrer eine potenzielle Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellte, wurde davon ausgegangen, dass er seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt hatte. Die Schweizer Rechtsprechung setzt jedoch Fahrlässigkeit voraus, wenn der mutmaßliche Täter nicht die Aufmerksamkeit und die Anstrengungen unternommen hat, die von ihm erwartet werden konnten, um seinen Pflichten nachzukommen, die sich aus den Rechtsnormen ergeben, die zur Gewährleistung der Sicherheit und zur Vermeidung von Unfällen erlassen wurden (Urteil des Bundesgerichts vom 02.08.2016, 6B 965/2014, E. 3).

Die letzte Rüge befasst sich mit Artikel 6 der Konvention, der "das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unparteiischen und unabhängigen Gericht" betrifft. Die Beschwerdeführerin beschwert sich darüber, dass die innerstaatlichen Gerichte keine neuen Bewertungen des Bündels von Indizien akzeptiert haben, das in einem der medizinischen Gutachten des Angeklagten enthalten war. Infolgedessen sei ihre Verteidigung bei der Prüfung von Beweisen, die durch medizinische Gutachten erbracht wurden, benachteiligt gewesen. Die Vorschriften über die Zulässigkeit von Sachverständigengutachten oder Zeugenaussagen dürfen der Verteidigung nicht die Möglichkeit nehmen, diese wirksam anzufechten, insbesondere durch Vorlage oder Einholung weiterer Gutachten und Berichte. In der Rechtsprechung zu Artikel 6 § 1 EMRK wird die Weigerung, ein alternatives Gutachten eines Sachbeweises zuzulassen, als Verletzung angesehen (siehe Stoimenov gegen die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 17995/02, §§ 38 ff., 5. April 2007).

Nulla poena sine lege, wie die EMRK in Artikel 7 erwähnt. In der Schweiz bedeutet das Fehlen einer Bestimmung, die ein bestimmtes Verhalten verurteilt, nicht, dass das gleiche Verhalten straffrei bleiben muss. Im vorliegenden Fall gibt es in Art. 117 des Schweizerischen Strafgesetzbuches eine Bestimmung, die namentlich die Tötung von Menschen unter Strafe stellt. Die Straftat ist nach wie vor von sicherer Schwere und es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass sie ungestraft bleibt.

Als letztes Mittel wandte sich die Mutter an den EGMR, damit dieser die mögliche strafrechtliche Verantwortung des Fahrers feststellt.

Bis zur Entscheidung der Straßburger Richter bleibt zu hoffen, dass dieser Fall vor dem EGMR zur Klärung der Vergabe von Strafen für Handlungen, die strafrechtlich geahndet werden müssen, führen wird.

Campos Kelly, Jayo Paul, Mariotti Maeva und Pelletier Eloïse