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Antrag an den EGMR: Recht auf Leben unter Druck gesetzt
Als eine Mutter und ihre 38-jährige Tochter 2018 gemütlich auf einem Bürgersteig spazieren gingen, wurden sie von einem Fahrer erfasst, der die Kontrolle über sein Auto verloren hatte. Die Tochter war auf der Stelle tot und die Mutter wurde schwer verletzt. Die Schweizer Instanzen befanden den Fahrer nicht für schuldig, da die Umstände des Blackouts, auf den er sich berief, nicht genau bestimmt werden konnten. Das Schweizer Strafgericht sprach ihn daher von jeglicher Schuld und Strafe frei.
Wie kann ein Tötungsdelikt, selbst wenn es fahrlässig begangen wurde, straffrei bleiben? Diese Frage stellten wir den Richtern des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) und beriefen uns dabei auf Artikel 2 der Konvention, der besagt, dass "das Recht eines jeden Menschen auf Leben gesetzlich geschützt ist", sowie auf Artikel 6, der Garantien für den Verlauf des Verfahrens verlangt.
Nachdem sie alle Schweizer Instanzen durchlaufen hatte, wandte sich die Beschwerdeführerin (Mutter des Opfers) an den EGMR, um Gerechtigkeit für sich und ihre Tochter (die am Unfallort verstarb) sowie für den Unfall, der zu einer dauerhaften Invalidität geführt hatte, zu erlangen. Sie bringt mehrere Beschwerdepunkte gegen unsere Gerichte vor. Kurz gesagt, so die Beschwerdeführerin, haben die Schweizer Gerichte die Verpflichtung aus Art. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) missachtet. Dieser verlangt die Einrichtung eines wirksamen und unabhängigen Justizsystems, das es ermöglicht, die Umstände des Todes festzustellen und gegebenenfalls die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Diese positive Verpflichtung aus demselben Artikel muss so ausgelegt werden, dass sie im Zusammenhang mit jeder öffentlichen oder nichtöffentlichen Aktivität gilt, bei der das Recht auf Leben auf dem Spiel stehen kann (Ciechońska v. Polen, 2011, § 69; Banel v. Litauen, 2013, § 68). In diesen beiden Fällen räumte der EGMR ein, dass die nationalen Gerichte nicht alles getan haben, um ungerechtfertigte Verletzungen des Rechts auf Leben nicht ungestraft zu lassen. Ein solches Verhalten würde jeden Anschein der Duldung illegaler Handlungen verhindern und das Vertrauen der Öffentlichkeit aufrechterhalten (Oruk v. Türkei, 2014, §46).
In unserem Fall könnte der Freispruch des Fahrers als eine Schwächung der abschreckenden Rolle erscheinen, die ein Justizsystem bei der Verhinderung von Verletzungen des Rechts auf Leben spielt.
Die erste Beschwerde, die von der Beschwerdeführerin vorgebracht wurde, stützt sich darauf, dass die Schweizer Gerichte die Indizien nicht berücksichtigt haben, die zur Feststellung der Todesumstände führen können und die Verantwortlichen gegebenenfalls zur Rechenschaft ziehen können, sowie auf ihre Verpflichtung, das effektive Funktionieren eines bestimmten Rechtsrahmens zu gewährleisten. In diesem Fall begnügten sich die Schweizer Gerichte mit zwei medizinischen Gutachten, obwohl ein drittes vorlag, das eine gewisse Verantwortung des Fahrers befürwortete. Die Zuweisung der Verantwortung konnte auf der Grundlage der Ergebnisse des dritten Gutachtens, das auf einen möglichen Schlaf während des Unfalls hindeutete, nicht zugelassen werden.
Der zweite Vorwurf stützt sich auf den lückenhaften innerstaatlichen Rechtsrahmen für den Straßenverkehr. Dieses ist nicht abschreckend und streng genug, um eine wirksame Prävention von illegalen Handlungen zu gewährleisten. Das Schweizer Rechtssystem sieht kein Fahrverbot unter bestimmten Bedingungen vor. Darüber hinaus prangert die Beschwerdeführerin die Tötung an, die in diesem Fall ungestraft blieb. Weder Strafen noch Maßnahmen wurden gegen den Täter aufgrund der Einnahme von Medikamenten ergriffen. Diese hatten jedoch Auswirkungen, wie z. B. eine sehr starke Abnahme der kognitiven Leistung und Schläfrigkeit. Obwohl der Fahrer eine potenzielle Gefahr für die Verkehrssicherheit darstellte, wurde davon ausgegangen, dass er seine Sorgfaltspflicht nicht verletzt hatte. Die Schweizer Rechtsprechung setzt jedoch Fahrlässigkeit voraus, wenn der mutmaßliche Täter nicht die Aufmerksamkeit und die Anstrengungen unternommen hat, die von ihm erwartet werden konnten, um seinen Pflichten nachzukommen, die sich aus den Rechtsnormen ergeben, die zur Gewährleistung der Sicherheit und zur Vermeidung von Unfällen erlassen wurden (Urteil des Bundesgerichts vom 02.08.2016, 6B 965/2014, E. 3).
Die letzte Rüge befasst sich mit Artikel 6 der Konvention, der "das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unparteiischen und unabhängigen Gericht" betrifft. Die Beschwerdeführerin beschwert sich darüber, dass die innerstaatlichen Gerichte keine neuen Bewertungen des Bündels von Indizien akzeptiert haben, das in einem der medizinischen Gutachten des Angeklagten enthalten war. Infolgedessen sei ihre Verteidigung bei der Prüfung von Beweisen, die durch medizinische Gutachten erbracht wurden, benachteiligt gewesen. Die Vorschriften über die Zulässigkeit von Sachverständigengutachten oder Zeugenaussagen dürfen der Verteidigung nicht die Möglichkeit nehmen, diese wirksam anzufechten, insbesondere durch Vorlage oder Einholung weiterer Gutachten und Berichte. In der Rechtsprechung zu Artikel 6 § 1 EMRK wird die Weigerung, ein alternatives Gutachten eines Sachbeweises zuzulassen, als Verletzung angesehen (siehe Stoimenov gegen die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien, Nr. 17995/02, §§ 38 ff., 5. April 2007).
Nulla poena sine lege, wie die EMRK in Artikel 7 erwähnt. In der Schweiz bedeutet das Fehlen einer Bestimmung, die ein bestimmtes Verhalten verurteilt, nicht, dass das gleiche Verhalten straffrei bleiben muss. Im vorliegenden Fall gibt es in Art. 117 des Schweizerischen Strafgesetzbuches eine Bestimmung, die namentlich die Tötung von Menschen unter Strafe stellt. Die Straftat ist nach wie vor von sicherer Schwere und es gibt keine Rechtfertigung dafür, dass sie ungestraft bleibt.
Als letztes Mittel wandte sich die Mutter an den EGMR, damit dieser die mögliche strafrechtliche Verantwortung des Fahrers feststellt.
Bis zur Entscheidung der Straßburger Richter bleibt zu hoffen, dass dieser Fall vor dem EGMR zur Klärung der Vergabe von Strafen für Handlungen, die strafrechtlich geahndet werden müssen, führen wird.
Campos Kelly, Jayo Paul, Mariotti Maeva und Pelletier Eloïse